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Sicht meiner Mutter

 

Die Geschichte beginnt in jenem Moment im Frühling 1995, als Janics Vater nach der Geburt bemerkt, dass die Ärztin das Neugeborene auffällig lange untersucht. Auf seine Frage, was denn der Grund sei, meinte sie, Janic habe nur ein kleines Geräusch auf dem Herzen, nichts Schlimmes, das würde sich geben.

 

Beim Austritt aus dem Spital wurde uns empfohlen, die erste Säuglingsuntersuchung beim Kinderarzt nach ca. drei Wochen bereits durchzuführen. Der Kinderarzt war nicht beunruhigt, wollte uns aber trotzdem an einen Herzspezialisten des Kinderspitals Zürich überweisen «nur zur Sicherheit, das Kispi soll das kleine Herz mal anschauen».

 

Am Dienstag vor Ostern 1995, Janic war inzwischen fünf Wochen alt, fanden die Untersuchungen auf der Kardiologie-Abteilung des Kinderspitals Zürich statt. Unendlich lange zogen sich die Stunden, am frühen Abend eröffnete mir der Kardiologe, Janic hätte einen schweren Herzfehler und müsse sofort operierte werden. Von einer Stunde auf die andere stand unsere Welt auf dem Kopf. Herzfehler…? Für uns zu Beginn ein Todesurteil. Sollte das Leben unseres Sohnes enden, bevor er es richtig kennenlernen durfte? Die kommenden Stunden verliefen wie in einer Blase, Janic wurde auf die Intensivstation verlegt und tags darauf notoperiert. Am Donnerstag nach der Operation teilten uns die Ärzte mit, dass Janic ohne diesen Eingriff die Ostern womöglich nicht mehr erlebt hätte.

 

Unser Leben hatte jäh die Spur gewechselt. Da war Zuhause unsere 15 Monate alte Tochter, im Kinderspital auf der Intensivstation unser Sohn, der um sein Leben kämpfte. Seinen Herzfehler konnten wir selber kaum verstehen, seine Komplexität überstieg unsere Vorstellungskraft. Diagnose: univentrikuläres Herz, Vorhofseptumdefekt, Transposition der grossen Gefässe und Mitralklappenatresie. Janic hat nur eine funktionierende (linke) Herzkammer. Die rechte Kammer und die linksseitige Herzklappe sind verkümmert. Ein kleines Loch in der Vorhofscheidewand musste in dieser ersten Notfalloperation vergrössert werden. Dies erlaubte ihm vorerst zu überleben. Im Alter von acht Monaten sowie mit etwas mehr als drei Jahren wurden die zweite und dritte Operation am offenen Herzen durchgeführt, die sogenannten Hemi-Fontan und die Fontan-Operation. Im Alter von zehn Jahren bekam Janic einen Herzschrittmacher, da sein Herz aus eigenem Antrieb nur noch etwa zwei Prozent schlug.

 

Die Angst um unseren Sohn war am Anfang im Alltag unser stetiger Begleiter. Herumtollen durfte er, doch ab und zu überstieg er seine Grenzen und erbrach vor Erschöpfung. «Machen lassen», rieten uns die Ärzte, «er muss selber herausfinden, wo seine Grenzen sind». Einfacher gesagt, als getan. Gelassenheit war etwas, das wir noch ganz stark üben mussten. Mannschaftssport ist ihm nicht erlaubt, trotzdem hatte er sich in der Mittelstufe für ein Fussballturnier angemeldet. Die Lehrerin informierte uns telefonisch über seine Anmeldung. Er durfte trotzdem teilnehmen, hatte im Gegensatz zu seinen Mitspielern aber kürzere Spielzeiten. Nach und nach stieg unser Vertrauen in Janics «Können» trotz seines Herzfehlers.

 

Beim Schuleintritt suchten wir frühzeitig das Gespräch mit der Kindergärtnerin, stellten ihr ein kurzes Merkblatt zusammen mit den wichtigsten Hinweisen zu Janic und seinem Herzfehler. Bei jedem Klassenwechsel setzten wir uns umgehend mit der neuen Lehrperson in Verbindung und erläuterten ihr oder ihm Janics Herzproblem. Wir kauften uns Handys, um jederzeit in einem Notfall erreichbar zu sein. Trotzdem sollte Janic so normal wie möglich aufwachsen und zur Schule gehen können. Wir hatten Glück. Während der ganzen Volksschulzeit begegneten wir stets verständnisvollen Lehrpersonen, welche immer gesprächsbereit waren, frei von Berührungsängsten, und Janic spüren liessen, dass er ein ganz normaler Schüler ist wie alle anderen in der Klasse. Im Sportunterricht durfte er selber entscheiden, wann genug war und er eine Pause benötigte. Als Eltern informierten wir nur die Lehrpersonen. Wem von der Klasse er über seine Krankheit erzählen wollte, überliessen wir voll und ganz Janic. Im Kindergarten und in der Unterstufe wussten bis auf die engsten Freunde von Janic niemand von der Klasse von seinem Herzfehler. Als im Alter von zehn Jahren, er war gerade in der fünften Klasse, die Herzschrittmacher-Operation anstand, beschloss Janic, seine gesamte Klasse zu informieren.

 

Mit der Pubertät stieg Janics Selbstverantwortung. Wir waren uns bewusst, dass unser Sohn eines Tages flügge wird und sein Leben selber in die Hand nehmen muss. Mit kleinen Schritten führten wir ihn an seine Selbstverantwortung heran. Anfangs füllten wir die Medikamente noch in ein Dosette für jeden Tag ab. Die Tabletten wurden im Küchenschrank gelagert und wir kontrollierten die tägliche Einnahme. Mit der Zeit durfte er das Dosette ins Zimmer nehmen und wir überprüften alle paar Tage, ob er seine Medikamente auch wirklich nimmt. Rasch fiel auf, dass er plötzlich auffallend oft die Tabletten vergass. Auf unsere Frage antwortete er uns, dass er keine Lust mehr hätte, immer Medikamente zu schlucken und ganz normal wie alle anderen Jungs in seinem Alter sein wolle. Ohne Medikamente. Da war Fingerspitzengefühl gefragt und dank Gesprächen mit einem befreundeten jungen Mann, welcher ebenfalls an einem Herzfehler leidet, konnte Janic überzeugt werden, dass die Medikamente überlebenswichtig sind für ihn.

 

In der Zeit der Berufslehre übernahm Janic dann vollends die Verantwortung über sich und seinen Herzfehler. Er informierte seinen Lehrmeister schon bei der Bewerbung über seine Krankheit. Seine Termine für die jährlichen Herzkontrollen im Unispital Zürich organisiert er alleine. Die Korrespondenz und auch die Gespräche mit den Ärzten hat er vollständig übernommen. Mit kleinen Schritten führten wir ihn an die Selbstständigkeit heran, anfangs mit kleinen Kontrollen, später mit immer grösser werdendem Vertrauen.

 

Manchmal fragen wir uns, wo wir heute wären, hätte Janic nicht diesen Herzfehler, hätte er ein ganzes Herz. Wir möchten es nicht wissen… Viele Erlebnisse und viele Begegnungen, die wir nicht missen möchten, wären uns vergönnt gewesen. Janic steht mit beiden Beinen im Leben. Er hat ein halbes Herz, aber ein ganzes Leben, welches er mit jeder Faser geniesst. Mit seinem lebensbejahenden Optimismus ist er uns ein grosses Vorbild.

 

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